In aller Frische und ganz früh am Morgen (na gut, wir fühlen uns weder richtig frisch, noch ist es dank der 2‑stündigen Zeitverschiebung wirklich Morgen) machen wir uns also auf den Weg die Stadt auch bei Tageslicht zu erkunden. Vor uns liegt ein Fußmarsch: vorbei an der Admiralität lassen wir auch die Isaac-Kathedrale (ein ziemlich imposanter Kirchenbau) zu unserer Linken liegen. Wir passieren den Senat und kommen bis zum Ufer der Neva, entlang dessen man auch als Fußgänger mit riesigen Schildern darauf hingewiesen wird, dass hier Ankern verboten ist. Das dürfte daran liegen, dass St. Petersburg direkt am Meer liegt und sich wahrscheinlich das eine oder andere Schiff über die Flüsse bis in die Stadt verirrt (abgesehen von den 4 – 5 Restaurant-Schiffen, die, wenn überhaupt, sicherlich seit langem nicht mehr geschwommen sind). Die Kälte prägt das Stadtbild und auch der Fluss ist derzeit zugefroren. Über die Dvorcovij-Brücke direkt bei der Eremitage (die wie beinahe alle anderen Brücken St. Petersburgs für die Schifffahrt geöffnet werden kann), wechseln wir Flussseite zur Haseninsel hin. Im Spaziergang vorbei an der Börse und Kunstkammer ist unser Ziel die Peter- und Pauls-Festung und die darin befindliche berühmte Kirche mit dem hohen goldenen Turm.
Auf den Spuren der Zarrenfamilie
Wie in jedes andere touristisch interessante Gebäude müssen wir auch zum Besichtigen der Kirche Eintritt zahlen, zum Glück wird mein österreichischer Studentenausweis mit abgelaufenem Semesteretikett akzeptiert (sei es aus Unwissenheit und Verwunderung, weil die Kassiererin das erste Mal einen österreichischen Studentenausweis in der Hand hält und das Wort Student doch recht international verständlich ist, oder einfach aus Gemütlichkeit, weil sie sich eine Diskussion auf Englisch ersparen möchte). Jedenfalls spare ich (derzeit weniger) wertvolle Rubel. Wie wir anhand der Fotos und Beschriftungen erkennen, handelt es sich hierbei um die Kirche, in der 1998 die sterblichen Überreste der russischen Zarenfamilie Romanov bestattet wurden. Die letzten Abstammen lies der bolschewistische Ministerpräsident Sverdlov 1918 im damaligen Sverdlovsk (heute Ekaterinburg, wo wir während unserer Reise auch hinkommen werden) ermorden, der Dramaturgie dienend mit Säure übergießen und verscharren. Erst Jahre später konnten die Leichen gefunden, per DNA-Test ihre Echtheit bestätigt werden und diese dann in eben dieser St. Peters- und Paulskathedrale bestattet und von der russisch-orthodoxen Kirche heilig gesprochen werden.
Aurora, wo bist du?
Nachdem wir nun die eher historischen Plätze zumindest passiert haben, ist unser nächstes Ziel die imposante Aurora, ein Panzerkreuzer aus dem Jahre 1900, der den entscheidenden Schuss als Signal zum Sturm des Winterpalais und der damit verbundenen Oktoberrevolution abgab. Viele Wegweiser führen einen zum Platz vor der Marinenakademie wo jenes Schlachtschiff stolz ankert, das auch auf vielen Fotos als Vorzeige-Kampfschiff der russischen Marine abgebildet wird. Der eisige Wind weht uns am Weg dorthin ins Gesicht und die unangenehme Luftfeuchtigkeit kombiniert mit ‑5° lässt die an sich nicht so kalten Temperaturen um einiges kälter erscheinen. Getrieben von dem Gedanken schon bald dieses Wunderwerk der Seefahrttechnik zu sehen erhöhen wir das Schritttempo und nähern uns zumindest laut zerknüllter Flughafen-Infopoint-Stadtkarte dem Liegeplatz. Dort angekommen dann die große Enttäuschung: das Wasser ist zugefroren, vier große Bojen markieren das Gebiet wo die Aurore liegen müsste, aber offensichtlich ist es mit russischen Schlachtschiffen wie mit Zugvögeln, im Winter bevorzugen sie wärmere Orte. Die Enttäuschung lässt die ‑5° C nochmal kälter erscheinen und meine Tränen gefrieren wie kleine Eiswürfel aus einem Eiswürfelspender während sie von meinen Augenwinkeln abperlen.
Kartoschka, Kartoffel oder Schokolade-Kakao-Erdapfel
Durchgefroren nach dem langen Spaziergang bereue ich mittlerweile die lange Unterwäsche mitgenommen, aber nicht angezogen zu haben, denn eine Jeans reicht definitiv nicht aus für kältetechnische Weicheier wie mich. Ein guter Platz zum Aufwärmen ist auf Empfehlung von Dasha (eine russische Pianistin, die ich auf der Internationalen Sommerakademie kennengelernt habe) das Café Sever in dem man (auch auf Empfehlung von Dasha) auf jeden Fall russische Kartoschki kosten sollte. Wir machen uns also mit der St. Petersburger Metro auf zum Nevskij-Prospekt und genießen dort für eine Weile russischen Tee, mit besagter Kartoschka, eine Art übergroße Rumkugel in Torpedoform ohne Rum, mit viel Butter, weniger Zucker, dafür umso mehr Kakao und Schokolade.
Bevor wir uns auf den Rückweg in unser Appartement machen verfallen wir doch noch einmal dem posteurpäische-prerussischen Weihnachtsshoppingfieber und bestaunen den berühmten Feinkostladen Jelissejew diesmal auch von innen. Jede Menge exquisiter Süßigkeiten, Konfekt, feinster Schinken, Käse, Brot, natürlich auch Wodka und Schokolade werden hier fein drapiert zum Kauf angeboten – hier rollt der Rubel. Um nicht mit leeren Einkaufssackerln das Geschäft zu verlassen, gönnen wir uns ein Kümmelbrot für die morgendliche Zugreise von St. Petersburg nach Moskau, viel mehr passt auch nicht mehr wirklich in unsere Koffer und Reisetaschen, gefüllt mit unnötigem Gewand und Unterwäsche für 2 Wochen, die jetzt kostbaren Platz für Nüsse in Honig, Törtchen, Zuckerfiguren und das russische Nationalgetränke (nicht Tee, das andere) wegnimmt.
Warten auf den Wodka
Nach einer kurzen Pause im Appartement folgt nun die Suche nach einem geeigneten Lokal um ein originales russisches Abendessen inklusive Wodka zu genießen. Foursquare erweist sich nicht zum ersten Mal auf meinen Reisen als äußerst hilfreiche App um Lokale für ein Abendessen mit gewünschter Speiseart und guten Bewertungen zu finden. Weil ich die kyrillischen Tipps noch nicht vollständig entziffern kann, die die russische Community auf Foursquare hinterlässt, orientiere ich mich vorzugsweise an den Fotos der Besucher, die dort eingecheckt haben.
Unsere Wahl fällt nicht nur aufgrund des Namens auf den Russian Vodka Room No. 1, wo angeblich auch Speisen serviert werden. Dort angekommen lädt ein rustikaler großer Raum zum Verweilen ein, entsprechend solchen, die ich von polnischen Hochzeiten her kenne. Wie auch schon im Lokal gestern Abend, wird man beim Eingang empfangen und nach einer Reservierung gefragt – ein Tisch findet sich trotzdem bis jetzt immer auch ohne (ich muss zugeben, ich gehöre auf Reisen weder zu den Warmduschern, noch zu den Lokaltischreservierern, wobei ich davon ausgehe, dass ich mir die warme Dusche in den nächsten Tagen noch sehr sehnlichst wünschen werde). Die Speisekarte offenbart auf der Rückseite eine Vielzahl von Wodkas, was daran liegt, dass an das Restaurant ein Wodkamuseum angeschlossen ist (geschätzte 50 und gefühlte 300 an der Zahl – die jedoch vermutlich genauso wie ich stark schwanken wird, wenn ich mich durchkosten sollte). Vor dem Essen wird noch mit einem sogenannten Samogon („der Selbstgebrannte“ Wodka) angestoßen und ich werde wieder einmal darin bestätigt, dass guter Wodka kein Brennen in der Speiseröhre oder ein verzerrtes Gesicht zu Folge hat, im Gegenteil, er schmeckt sehr „getreidig“ und angenehm. An die Stamperlgröße wird man sich auch schnell gewöhnen, denn klein sind in Russland 50ml, während ein großes Stamperl 100ml misst – mal schauen, ob ich dem Grundsatz „großes Stamperl, für einen großen Mann“ folgen werde.
Nach einem sehr schmackhaften Abendessen (serviert wurde Boef Stroganoff mit sehr zartem Rindfleisch und dazu feinem Kartoffelpüree), begleitet von einer russischen Live-Restaurant-Combo geht es nun per Taxi in die Bar Selona (ein Wortspiel auf Barcelona, da es sich dabei um eine spanische Bar handelt).
Ein Internationaler Abend im Barcelona St. Petersburgs
Dort erwartet mich Dasha (meine vorhin schon erwähnte Kartoschka-Freundin) mit ein paar weiteren russischen, irischen und spanischen Studenten, die alle doch irgendwie eine Verbindung zu St. Petersburg haben aber größtenteils im Ausland studieren.
Ich lerne unter anderem im Laufe des Abends eine weitere Dasha kennen, die in St. Petersburg ein Hostel betreibt. Sie erzählt mir, dass sie in zwei Wochen nach Mexiko fliegt und auf meine Frage hin für wie lange, meint sie dass sie das noch nicht weiß. Während viele Russen vor ca. 2 Wochen beim Rubelverfall Waschmaschinen, Fernseher, Autos und Küchenroboter mit Rasenmäherfunktion kauften, buchte sie ein One-Way-Ticket nach Mexiko, überzeugt davon, dass, wenn es einen passenden Moment gibt auf ungewisse Zeit auf Reisen zu gehen, dieser in Russland jetzt sei. Dass der Betrieb des Hostels gesichert bleibt wäre kein Problem.
Viel zu spät (egal zu welcher Ortszeit) geht es wieder zurück zum Apartment für eine kurze Nacht, denn morgen um 6:50 Uhr verlässt unser Zug den St. Petersburger Bahnhof in Richtung Moskau.