Schon beim Aussteigen merken wir, dass wir in Sibirien angekommen sind, denn Eiseskälte macht einem das Atmen am Bahnhof ziemlich schwer. Auch Europe haben wir hinter uns gelassen, denn kurz vor Jekaterinburg verläuft die Grenze zwischen unserem Kontinent und Asien.
Die Toilette am Bahnhof, die wir unter anderem zum Zähneputzen in Anspruch nehmen (auf den Toiletten der dritten Klasse ist das nach so vielen Stunden Fahrt nicht nur zu einer unangenehmen, sondern auch schon zu einer unhygienischen Tätigkeit geworden) gibt uns einen weiteren Hinweis auf die Tatsache, dass wir asiatischen Boden betreten haben: die Notdurft verrichtet man hier ausschließlich ins schwarze Loch (keine astronomische Erscheinung, die man für 20 Rubel bewundern darf, sondern eine „invertierte Toilette“) das einem Durchschnittseuropäer wie mir erst einmal ein wenig Kopfzerbrechen darüber bereitet, wie ich eine korrekte Haltung einnehme (eine symbolische Gebrauchsanweisung wäre seltsam, aber hilfreich) und in weiterer Folge auch darüber, dass es mit einem astronomischen schwarzen Loch wohl nicht viel zu tun haben kann, denn offenbar verschwindet darin nicht alles, im Gegenteil, den Geruch scheint es eher zu verbreiten.
Die geschützte Kammer im Keller
Erst einmal die Sachen so zurechtgepackt, dass wir das große Reisegepäck im Aufbewahrungsraum lassen können und nur mit einem Rucksack die Stadt erkunden, begeben wir uns auf die Suche nach der „geschützten Kammer“, dem russischen Wort für Gepäckaufbewahrung. Ein wenig verloren irren wir durch das gesamte Bahnhofsgebäude, da wir weder eine Hinweistafel finden können, die uns dorthin führt, noch kann uns jemand von dem unterschiedlichsten Bahnpersonal, das im Gebäude in der Gegend herumsitzt verständlich Auskunft geben, wohin wir müssen. Erst ein Wachmann gibt uns den helfenden Hinweis, dass sich diese ganz weit unten im Keller befinden würde. Tatsächlich muss man dafür erst das Bahnhofsgebäude verlassen um das erste Hinweisschild und in weiterer Folge den äußeren Stiegenabgang zur Gepäckaufbewahrung zu finden. Wir lernen: die geschützten Kammern befinden sich auf Bahnhöfen immer im tiefsten und dunkelsten Keller mit den steilsten Treppen, damit es dem Reisenden nicht allzu einfach gemacht wird seinen Trolley dorthin zu rollen – dieses Schema zieht sich in der Tat durch alle Bahnhöfe auf denen wir in weiterer Folge aussteigen werden.
Stammgäste in der Schokoladnica
Jetzt aber ab ins Zentrum und etwas frühstücken. Auf dem Weg dorthin bleiben wir gleich neben dem Bahnhofsgebäude im Bahnhofsmuseum hängen. Ein äußerst schönes restauriertes Haus mit netten Figuren am Vorplatz. Auf einen Durchgang verzichten wir dann im Endeffekt doch, da nach Betreten des Eingangsbereiches die Ausstellung nicht so spannend wirkt wie erhofft und uns der Hunger plagt. Wir nehmen also die Metro für zwei Stationen ins Zentrum (mit dem Prinzip des Metrofahrens in Russland sind wir von St. Petersburg und Moskau schon vertraut). Nicht ganz so pompös aber trotzdem sehenswert sind auch in Jekaterinburg die Metrostationen, auch wenn das Netz eher klein ist.
Beinahe direkt neben der Metrostation bei der wir aussteigen finden wir auch ein nettes Lokal mit dem Namen „Schokoladnica“ das nicht nur Tee, Kaffee und Frühstück anbietet, sondern das auch gratis W‑Lan und ein paar Steckdosen zur Verfügung stellt, zum Aufladen des ganzen technischen Krempels den ich unverzichtbar mit mir mitführen muss. Das Lokal überzeugt uns nicht nur durch russische Servicefreundlichkeit (im positiven Sinne) sondern auch durch die Qualität der traditionellen Bliny und Palatschinken, die für ein Frühstück nach langer Bahnfahrt gerade recht sind. Zu diesem Zeitpunkt können wir noch nicht ahnen, dass wir innerhalb nur eines Tages zu Stammgästen in der Schokoladnica werden und die Bedienung (in weiblicher Form auch Dschewuschka – „Mädchen“ – genannt) auswendig wissen wird, was wir bestellen wollen.
Wir verpacken uns wieder in Schal, Haube (Uschanka besitze ich leider noch keine) und Handschuhe und begeben uns aufgewärmt in die sibirische Kälte und kalt ist es wirklich, denn die Sonne versteckt sich hinter trüben Wolken und die Aussenthermometer in der ganzen Stadt zeigen mindestens ‑15°C an.
Vom Rathaus bis zum Mafiafriedhof
Unser kleiner Stadtrundgang führt uns zunächst auf den Hauptplatz vor das Rathaus, wo ein großer Weihnachtsbaum aufgestellt ist dessen Spitze ein sowjetrussischer roter Stern schmückt und wo wie in vielen russischen Städten um den Jahreswechsel herum große Eisfiguren den Platz sehenswert machen. Wir begegnen hier wiederum Dedek Moros (Väterchen Frost) und seiner Helferin Snegurotschka (Schneeflöckchen), den russischen Neujahrs- und Weihnachtsfiguren die den Kindern Geschenke und uns ein schönes touristisches Fotomotiv bringen. Im Spaziergang geht es weiter vorbei am See, wo der Wind die gefühlte Temperatur auf ‑25°C sinken lässt bis hin zur Kirche. Nach kurzer Besichtigung dieser beschließen wir noch in der Abenddämmerung (die Tage sind tatsächlich eher kurz und die Sonne geht schon um 16:30 unter) einen von den vielen Kleinbussen (Mikrik gennant) zum städtischen Friedhof zu nehmen. Nicht weil wir Anhänger des Satanismus sind und zu Silvester in der Dunkelheit noch einen Friedhof besuchen müssen um das alte Jahr erfolgreich und glücklich abzuschließen, sondern weil in Jekaterinburg ein weltweit einzigartiger Friedhof mit riesigen Grabmählern sein soll. Angeblich haben sich die zwei großen lokalen Mafiabanden selbst nach dem Tod der Mafiabosse noch übertrumpfen wollen und ihren Anführern imposante Grabsteine mit deren lebensgroßen Abbildern und den Spitznamen (z.B. Vladimir der Schlitzer) erschaffen. Wir folgen den Anweisungen von Google Maps und der öffentlichen Routenplanung und landen tatsächlich in einem eher düsteren Stadtteil mit viel Wald, einer einzigen Straße und einem großen Bereich umzäunt durch Wellenblech.
Unsere Erwartungshaltung nach dem Aussehen eines Friedhofs war eine andere, weshalb wir erst einmal durch die Gegend irren auf der Suche nach einem Eingang. Das einzige Gebäude, bei dem eine einzige Glühbirne ein paar Schatten in den Hof wirft ist eine Autowerkstatt, bewacht von einem recht großen russischen Hund (zum Glück kein Bär), an den wir uns nicht rantrauen da wir aufgrund der Verständigungsprobleme mit den Einheimischen uns mit russischen Bulldoggen nicht höhere Erfolgschancen ausrechnen. Durch den Schnee um den Wald herum stapfend finden wir dann doch eine Öffnung im Wellenblech und betreten das Areal und siehe da – es handelt sich tatsächlich um einen Friedhof, bei dem die Gräber zwischen die vielen Bäume gesetzt sind und keine einzige Lampe die sehr spärlich vorhandenen Wege erleuchtet, einzig der helle Mond schafft eine gespenstische Atmosphäre.
Wir folgen dem unserer Meinung nach einzigen Hauptweg und kommen tatsächlich zu den lebensgroßen Grabsteinen mit kyrillischen Aufschriften, die wir in der Dunkelheit kaum entziffern können (auch mein Fotoapparat stößt an seine Grenzen, denn bei der Kälte und dem Zittern meiner Hände ist längeres Belichten ohne Verwackeln kaum möglich). Nachdem wir den ganzen Friedhof durchquert haben erreichen wir den Haupteingang dessen Tor durch massive Vorhängeschlösser versperrt ist. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte ich niemals in meinem Leben gedacht, dass ich eines Tages zur Silvesternacht bei klirrender Kälte über die Mauern eines russischen Mafiafriedhofs klettern muss um aus diesem „auszubrechen“.
Neujahr mit Putin, aber ohne Ton
Nach diesem Abenteuer geht es zurück in die Stadt in eines der von Foursquare empfohlenen Lokale um ein Silvesterdinner zu genießen. Nachdem die ersten 3 mit guten Bewertungen vorgeschlagenen Restaurants leider alle geschlossen haben, weiten wir unsere Suche auf prinzipiell offene Gaststätten aus und landen letztendlich in dem (neben Mc Donald’s) einzigen in Jekaterinburg überhaupt noch offenen Lokal das auch warme Küche anbietet: unser Frühstückskaffe, die Schokoladnica.
Nach einem guten Abendessen (es darf unter anderem wieder einmal Borschtsch sein) geht es kurz vor Mitternacht auf den Hauptplatz von Jekaterinburg, wo nicht nur das Rathaus mit der großen Rathausuhr sondern auch die Eisfiguren und der Weihnachtsbaum weihnachtlich beleuchtet werden. Offenbar versammelt sich hier die Bevölkerung dieser Stadt um bei Glühwein, Zuckerwatte, gegrillten Würstchen und Spießen das neue Jahr zu empfangen. Es herrscht schon ziemlich viel Jahrmarktstimmung, die Leute sind mit Sekt- und Wodkaflaschen unterwegs und sowohl auf der Bühne mit der großen LED-Wall als auch davor bildet sich eine große Traube (oder russische Kartoschka) Menschen, die voller Erwartung der Neujahrsansprache des Präsidenten Vladimir Putin und dem Countdown zum neuen Jahr entgegentrinken.
Ein paar Minuten bevor die Rathausuhr Mitternacht schlägt taucht dieser dann auf dem Screen auf und verkündet (ohne Ton) mit dem Kreml im Hintergrund – vermutlich – dass das alte Jahr schwierig war, das neue Jahr jedoch viel besser werde, dass er Russland mit einer starken Hand durch die politischen Wogen führen werde und der Wodka billig bleibt. Wie gesagt sind das Vermutungen, da es bei der Neujahrsansprache anscheinend weniger um den Inhalt der Rede (die wie erwähnt ohne Ton übertragen wird) sondern vielmehr um das Antlitz des politischen Bären im Kreml geht.
Erfüllt von dessen Ausstrahlung fliegen spätestens jetzt die mitgebrachten Raketen und Böller (zumindest die, die zünden), die Korken des russischen Sekts knallen und Leute singen und freuen sich über das soeben angebrochene neue Jahr. Auch wir wünschen uns „s novim godom“ und stoßen mit Tee aus der Thermoskanne und österreichischem Stroh 80 aus dem Flachmann gemeinsam mit uns umgebenden Russen auf das neue Jahr an, das wir hier 4 Stunden vor unseren Familien und Freunden in Österreich begehen.
Die einzigartige Socken-Klopapier-Performance am Bahnhof
Da wir mit der Planung der Silvesternacht in Jekaterinburg etwas zu optimistisch und zu sehr auf Party eingestellt waren und unser Zug zur Weiterfahrt erst um 6 Uhr morgens die Stadt verlässt, die meisten Leute jedoch schon ziemlich bald (wahrscheinlich auch aufgrund der Kälte) vom Hauptplatz flüchten und wir kein Lokal finden, in dem wir bis in die Morgenstunden einen Samogon nach dem anderen kippen könnten, landen wir um halb 2 wieder in der Schokoladnica, die als einzige bis 5 Uhr in der Früh Betrieb hat. Die Kellnerin erkennt uns wieder und serviert mittlerweile ohne nachzufragen einen Glintwein nach dem anderen – das relativ kleine Lokal ist aber erstaunlich voll, der beheizte Eingangsbereich ebenso.
Um 5 Uhr zahlen wir und machen uns auf den Weg bei ‑22°C per Fußmarsch durch die verschneiten Straßen Jekaterinburgs zum Bahnhof. Halb erfroren dort angekommen machen wir es uns in der Wartehalle „gemütlich“ und verfolgen auf dem Fernseher den ersten russischen Kanal mit der Neujahrsparty, bei der unter anderem Thomas Anders von Modern Talking live Cherry Cherry Lady zum Besten gibt (auch musikalisch – sofern man diese Klänge Musik nennen darf – wird uns Modern Talking auf der Weiterreise noch verfolgen). Die originellste und faszinierendste Live-Performance bietet uns mit Abstand ein betrunkener Russe, der uns gegenübersitzt, vor kurzem einen Teil des Mageninhalts über seine Hose und Schuhe verteilt hat und anscheinend vorbeugend Klopapier in die Socken gestopft hat, die er nun zeremoniell auszieht um dieses Klopapier wieder aus den nassen Schuhen und Socken zu zupfen. In dem Moment als er beschließt die ausgezogenen Socken schwungvoll auszuschütteln und das nasse Klopapier aus diesen wie Neujahrskonfetti durch den Warteraum fliegt, beschließen wir die Vorstellung zu verlassen, die in weiterer Folge durch das Wachpersonal vor dem Schlussakt ein abruptes Ende nimmt.
Wir steigen jedenfalls in den Zug nach Nowosibirsk und freuen uns schon auf unsere Dritte-Klasse-Betten, bzw. einfach nur Schlaf.