Nun ist es also soweit, die erste richtige Etappe mit der Transsibirischen Eisenbahn steht an. Von Moskau geht es nach Jekaterinburg, wo wir auch Silvester verbringen werden. Unser Zug mit der Nummer 100 verlässt um 00:35 den Jaroslavski Bahnhof in Moskau und kommt nach knapp 33 Stunden und 1.813 Streckenkilometern (so der russische Verkehrsminister will) im Zielbahnhof an. Wie wir bereits wissen sind Züge mit höheren Zugnummern älter und dementsprechend „russischer“ ausgestattet, unsere Erwartungshaltung passt sich also an die Zugnummer 100 an, auch wenn die logische Schlussfolgerung nicht ganz stimmen mag, dass es 99 Züge geben muss, die neuwertiger sind, als der, mit dem wir fahren werden.
Erst mal im Zug eingestiegen, suchen wir nach unseren Plätzen und nehmen dort die Lemming-Beobachtungshaltung an: schauen was die anderen machen und deren Verhalten so gut es geht imitieren. Jeder Liegeplatz ist mit einer eingerollte Matratze ausgestattet, die man auf das eigentliche Bett* legen sollte (*ich werde in weiterer Folge immer wieder das Wort „Bett“ für den zu engen, zu kurzen und recht simplen Schlafplatz verwenden der einem im Zug in der dritten Klasse zur Verfügung steht).
Die erste Nacht in der Platzkart
Die dritte Klasse-Waggons – „Platzkart“ genannt – sind Großraumwaggons mit Stockbetten längs zur Fahrtrichtung auf der linken Seite (in Fahrtrichtung des Zuges) und jeweils 4er-Gruppen von Betten quer zur Fahrtrichtung auf der rechten Seite. Die unteren Betten haben Stauraum für das Gepäck unterhalb der Liegefläche (dieser ist notfalls sogar groß genug um Reisende zu verstauen, die dem Gestank auf der Zugstoilette oder der Hitze im Waggon zum Opfer fallen). Für die oberen Liegeplätze gibt es ein Ablagefach über dem Bett auf das recht viel Gepäck passt. Dieses Ablagefach wurde angeblich bis vor gar nicht allzu langer Zeit als 3. Klasse in der 3. Klasse von Soldaten und Studenten genutzt. Gegen ein geringeres Handgeld an den Provodnik (der Zugbegleiter, von dem es in jedem Waggon einen gibt) erhielten sie Bettwäsche und konnten oberhalb der regulär Reisenden ihren Gepäck-Liegeplatz beziehen. Insgesamt passen 54 Leute in einen 3. Klasse Waggon und zumindest unserer ist ziemlich gut gefüllt.
Kurze Zeit nach der Abfahrt aus der Station, geht der Provodnik (in unserem Fall ist es die weibliche Form, eine stämmige Provodnica) mit den sauber in RZD-Folie verpackten Bettüberzügen durch und verteilt diese an die Reisenden. Spätestens jetzt geht das Gewusel wie in einem rollenden Ameisenhaufen los. Alle Leute stehen in den Gängen und zwischen den Betten und überziehen ihr Bettzeug. Manche hängen zusätzlich Decken als Vorhänge vor die Betten um sich auf engstem Raum zumindest ein wenig Privatsphäre zu schaffen. Wie bereits geahnt reicht selbst diese nicht aus um ein russisches MTS Erotikpaket am Smartphone zu nutzen, ohne dass der/die Bettnachbarin zwangsläufig mitkonsumieren würde.
Wir beziehen also nun auch unsere Betten und werfen alle noch einen Blick auf die Zugstoilette, die zu diesem Zeitpunkt (wir sind erst 1 Stunde von Moskau entfernt) für ihr rustikales Aussehen noch recht sauber wirkt – was sich bis Jekaterinburg bei dem Durchsatz an Personen pro Toilette und Dushiraks pro Person (Erklärung folgt) Stunde für Stunde ändern soll. Ein Klempner hätte jedenfalls seine Freude an der Installation: keine verkleideten Rohre, keine unnötigen Blenden, jedes tropfende Ventil leicht zugänglich und der Abfluss aus der Kloschüssel führt (wie es bei Zugstoiletten üblich ist) direkt über die Achse (vielleicht eine natürliche Form der Schmierung) auf die Gleise. Hier gibt man noch der Natur zurück, was ihr gehört.
Die Klolüftung kommt auf diese Art und Weise auch direkt über den Abfluss, was bei teilweise ‑20°C ein frisches Lüftchen um den Po ergeben könnte. Man legt sich also nach den ersten Eindrücken aus der Transsibirischen Eisenbahn hin und wird von Klopfgeräuschen vom Fahrgestell und einem manchmal sanften Wiegen, manchmal erdbebenartigen Wackeln des Waggons in den Schlaf geschaukelt.
Wie funktioniert die Zeit im Zug und was macht der Samovar?
Der nächste Tag beginnt um ca. 9:30 zu Moskauer Zeit. Taktgeber für alle Uhren der Bahnfahrt ist in ganz Russland Moskau. Man könnte behaupten, dass für Moskau der Kreml der Taktgeber ist, für den Kreml wiederum Putin den Takt angibt und somit die logische Schlussfolgerung ist, dass alle Uhren im gesamten Land nach Putins Armbanduhr gerichtet werden. Das wäre aber eine ziemlich schnelle Schlussfolgerung auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen werde. Jedenfalls sind alle Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge immer nach Moskauer Zeit angegeben, was in einem Land mit 10 Zeitzonen dazu führen kann, dass man zu Mitternacht (Moskauer Zeit) einen Bahnhof verlässt, während dort grad die Sonne schein. Wir werden besonders beim Stellen vom Wecker mathematische Höchstleistungen erbringen um rechtzeitig aus dem Zug zu steigen und wieder zum Bahnhof zurückzukommen.
Wir frühstücken die aus Wien importierte Packerlsuppe mit dem am Jaroslawer Bahnhof im 24-Stunden-Shop gekauften Brot (das dort weniger als Frühstücksbrot sondern eher als Wodka-Snack Absatz findet) und machen uns bei der Gelegenheit auch gleich mit dem in jedem Waggon befindlichen Samovar (ein riesiger Wasserkocher) vertraut. Dieses Wunderwerk der Zugfahrttechnik (mich würde es nicht wundern, wenn es auch in der russischen Raumfahrt Einsatz finden würde um in Sojus-Raketen als Kosmonaut einen heißen russischen Tee zu genießen), schafft es laufend Wasser zu kochen, das dahinter stehende thermo-pneumatische Prinzip ist sogar als eingerahmter Plan gleich neben dem Samovar aufgehängt und genauestens beschrieben, damit auskennen tun sich aber wahrscheinlich wirklich nur russische Raumfahrttechniker. Jedenfalls kann man sich dort laufend heißes Wasser holen, sei es für eben Tee oder auch für die bereits erwähnten Doshiraks (Erklärung noch immer nicht an dieser Stelle sondern etwas später). Der Samovar (und der Wodkavorrat im Speisewagon) stellt die zentrale Versorgungsader der Reisenden dar, dementsprechend häufig pilgern Russen mit ihren Bechern und Essgeschirren dorthin (die Toilette ist das Pendant, die Entsorgungsader – auch dorthin pilgern die Leute midestens genauso oft). Die sportliche Betätigung begrenzt sich somit meistens auf den Fussweg zum Samovar und jenen zur Toilette (dorthin ist es manchmal sogar ein Sprint, zurück nicht mehr).
Die Zeit über den ganzen Tag vertreiben wir uns mit viel Lesen, Kartenspiele spielen und verlieren letztendlich auch 2 Stunden zu Moskau durch die zwei Zeitzonen, durch die wir reisen, weshalb der Tag im Zug auch etwas schneller vergeht. Als uns am Abend wieder das Hungergefühl plagt, merken wir, dass wir leider nicht soweit vorgesorgt haben wie die Mitreisenden um uns herum und beschließen deshalb am Abend das Menü des Speisewaggons unter die Lupe zu nehmen.
Der Speisewaggon, ein eigenes Universum für sich
Der Gang durch mehrere Waggons gleicht einem Wechsel zwischen mehreren Klimaregionen. Während die Waggons übermäßig auf 25°C geheizt sind (ich muss zugeben, dass mir im Winter zu viel als zu wenig lieber ist), sinkt die Temperatur beim Durchgang zwischen den Waggons auf geschätzte ‑15°C ab. Anfangs wundern wir uns noch, was die vielen Plastiktaschen hier sollen, bis wir nach genauerer Begutachtung einer solchen merken, dass die mehrere Tage reisenden Russen diesen Bereich vernünfitgerweise zum Kühlschrank/Tiefkühlfach machen. Wir haben weder was zum Aufwärmen, noch zum Tiefkühlen, deshalb geht es weiter zum Speisewagen.
Dort angekommen offenbart sich uns eine äußert skurrile Atmosphäre: es spielt hochtönige Musik (einen großen Klangumfang kann man von den kleinen Lautsprechern nicht erwarten, laut sind sie trotzdem), zwei kleinwüchsige asiatische Damen mit RZD-Kochschürzen bedienen 2 Trinkenden ältere Russen (zumindest einer davon mit Goldzähnen, der andere hat gar keine) und zwei weitere Russinen sitzen an einem Tisch und unterhalten sich. Von den beiden sind wir uns noch nicht ganz sicher ob, sie nicht das Bordpersonal für erotische Bedürfnisse darstellen (obwohl ich das Erotikpaket nicht bestellt hatte, überlege ich keine Sekunde deren Angebot in Anspruch zu nehmen). Die Discokugel in einer Ecke des Waggons vervollständigt die Umgebung ideal und lässt auf einen netten Abendausklang mit romantisch-abenteuerlichem Dinner hoffen.
Zum Essen gab es Solyanka (russische Suppe mit vielem drin) und Pommes nach Art des Speisewaggons. Erstere war allgemein sehr gut, die Pommes waren selbst geschnitten und in Öl frittiert (oder eher getunkt) aber geschmacklich auch in Ordnung. Offenbar wird jedes Essen im Zug frisch zubereitet, das merkt man auch.
Dimitri, der Biker und seine Maschinen
Nachdem wir fertiggegessen haben und noch unser Bier genießen, gesellt sich ein Russe zu uns. Wir bestellen nicht Wodka, sondern nochmal Dosenbier und kommen dabei ins Gespräch. Gespräch ist anfangs vielleicht ein wenig übertrieben, denn es dauert eine Zeit lang, bis ich mich soweit in sein russisch hineingehört hab, dass wir nach den einzigen 10 Wörtern seines begrenzten Englisch ansatzweise eine Konversation führen können. Es gelingt uns aber doch und wir erfahren, dass er aus Perm stammt wohin er jetzt auch fährt um über die Feiertage seine zweite Frau und seine Kinder zu besuchen. Dimitri (zum Glück heißt er Dimitri, sonst könnte ich in meinem Blog nicht plausibel behaupten, dass er Russe ist) „arbeitet“ und lebt in Moskau, wo er eine Harley Davidson-Werkstatt betreibt und selbst auch hartgesottener Biker ist. Nach kurzer Zeit präsentiert er uns auf seinem Handy Fotos von seiner neuesten Maschine (damit meine ich nicht seine aktuelle Frau) und auch die seiner Harley auf die er besonders stolz ist, erst dann auch die Fotos von seiner Frau und seinen Kindern. Als letzte Gäste verlassen wir dann den Speise-Trinkwaggon und machen uns auf den Weg durch die Klimagebiete zurück zu unseren Betten.
Am nächsten Vormittag erreichen wir die Stadt, in der wir Neujahr feiern werden: Jekaterinburg. Schon eine Stunde vor Ankunft des Zuges werden wir von der Prevodnica aufgefordert unser Bettzeug zurückzugeben und uns auf die Ankunft vorzubereiten. Wir folgen den Anweisungen und freuen uns auch schon ein wenig den Zug wieder für einige Zeit verlassen zu können.